Segeln mit Tränen, weil zuhause Krieg ist

Viele private Initiativen, aber auch Unterstützung vom Kieler Yacht-Club und Norddeutschen Regatta Verein in Hamburg hat 21 Seglerinnen und Segler aus der Ukraine den Start bei der Kieler Woche 2022 ermöglicht. Sie geben auf den Regattabahnen der 470er und der Ilca-Klassen ihr Bestes, wollen abschalten und denken doch ständig an die schrecklichen Ereignisse in ihrer Heimat. Ihre Zukunft ist völlig ungewiss, sie hoffen und flehen geradezu um weitere Hilfe für ihr bedrohtes Land.
 
Von Ralf Abratis
Sie wirken gefasst, beantworten tapfer Interviewfragen, schlucken schlechte Gedanken runter. Doch irgendwann drücken Alyona Polova die Tränen in die Augen, dann müssen ihre Emotionen raus: „Ich weiß von jungen Gymnastik-Kolleginnen, von jungen Mädchen im Donbass, die getötet wurden. Und die Russen beschweren sich, dass sie nicht an Sportwettkämpfen teilnehmen dürfen?! Sie können überall hin, bei uns ist Krieg. Der sportliche Ausschluss ist absolut gerechtfertigt“, macht die 470er-Seglerin, die bis vor zwei Jahren Gymnastik betrieb, ihren Standpunkt klar. Auch ihr Steuermann Kyrylo Dolhov hat ein deutliches Statement: „Die russischen Sportler kennen offenbar nicht die Wahrheit. Sie wissen nicht, was bei uns passiert. Sie sollen einfach still sein!“
 
Die Kieler Woche ist für die beiden 25-Jährigen eine Flucht vor einer unbegreiflichen Situation in der Ukraine. Eine Flucht auf Zeit! Denn nach den Finals am Sonntag geht es zurück. Zurück in ihren Heimatort Saporischschja, der nur 40 Kilometer von der Frontlinie entfernt liegt. Nur mit einer Sondergenehmigung der Behörden konnte Dolhov nach Kiel reisen. „Männer müssen in der Ukraine bleiben. Anders als im Osten ist die Lage bei uns im Süden aktuell zwar relativ ruhig. Unsere Armee rückt sogar vor. Deshalb kehren viele Geflüchtete wieder zurück. Aber die Situation kann sich jederzeit ändern.“
 
Die Zukunft? Es ist für Dolhov ein schwarzes Loch. Bis zum Krieg war er professioneller Segler, arbeitete als Coach. Jetzt organisiert er mit anderen Freiwilligen Hilfe für die Betroffenen des Krieges. Bezahlte Arbeit gibt es derzeit nicht für ihn. An eine neue Ordnung in der Ukraine mag er gar nicht denken: „Keiner will Krieg. Wir wollen die ukrainische Einheit. Einen russischen Frieden kann es nicht geben – nicht ohne unseren Tod.“
 
In Kiel erleben die Aktiven einen Spagat der Gefühle. Über die Vermittlung von Anastasiya Winkel, der gebürtigen Ukrainerin, die mit ihrem Mann Malte in Kiel lebt, konnten drei 470er-Teams und vier Ilca-Segler an deutsche Gastgeber vermittelt werden. Kyrylo und Alyona wohnen zur Kieler Woche in der Innenstadt, besuchten auch das Volksfest. „Wir sind sehr dankbar, dass wir hier sein können, konnten sogar das Festival ein bisschen genießen“, berichtet Alyona. Aber abstreifen können sie den Krieg nicht. „Es ist kaum möglich, nicht daran zu denken. Wir telefonieren jeden Tag mit Angehörigen und Freunden zuhause.“
 
Ob es nach der Kieler Woche noch mal die Chance gibt, sich auf internationalen Events zu präsentieren, weiß Dolhov nicht. Einen entsprechenden Antrag zur Ausreise müsste er immer wieder neu stellen. Daher gilt für ihn: „Wir versuchen, uns hier in Kiel ganz aufs Segeln zu konzentrieren, wollen ein gutes Ergebnis erzielen. Auf jeden Fall wollen wir viele Erfahrungen sammeln.“ Aber dann wandern seine Gedanken doch wieder weg vom Sport: „Wir sind auch als Botschafter unseres Landes hier. Wir hoffen, dass die Welt die Ukraine weiter unterstützt. Waffenlieferungen sind dafür leider notwendig. Unsere Message ist klar: Wir brauchen Hilfe !

470er-Steuermann Kyrylo Dolhov und seine Vorschoterin Alyona Polova aus der Ukraine. Foto: Sascha Klahn/Kieler Woche

Der Start des 470er-Mixed-Teams Kyrylo Dolhov und Alyona Polova aus der Ukraine bei der Kieler Woche war lange Zeit unsicher, wurde aber mit großer Unterstützung ermöglicht. Ihre sportliche Zukunft bleibt völlig unklar. Foto: ChristianBeeck.de/Kieler Woche

24.06.2022 15:25 Alter: 2 yrs